Treppensystem


 von Hubertus Adam

Der Weg ist das Ziel

Michael Hemmi: Erschliessungssystem für die Burgruine Gräpplang, Flums, 1998

 

 

Eine Burgruine war touristisch neu zu erschliessen. Die Intervention auf dem

Gräpplang besteht aus einem betonierten Treppenweg, der neue Blicke auf die

alte Substanz ermöglicht. Bei aller Klarheit der Formensprache gewinnt der minimalistische Betonpfad eine expres­sive Dimension.

 

Das Seeztal verbindet die Region des Walensees mit Graubünden. Kommt man von Zürich, treten die schroffen Felsen zurück, welche das Seeufer zwischen Weesen und Walenstadt bestimmen, und weiten sich zu einem lieblichen Tal. Der Liasfelsen des Gräpplang («crappa lunga» = lang gestreckter Fels) bei Flums begrenzt diesen Kessel seit alters Richtung Wes­ten; kein Wunder, dass der exponierte Sporn schon in Urzeiten besiedelt wurde. Erste Funde reichen zurück bis in das Neolithikum, für die La-Tene-Zeit konnten Archäologen ein Dorf nachweisen; doch erst das Mittelalter schuf die bis heute erkennbare Kulturtopografie. Der Sitz eines Vogtes des Bischofs von Chur wurde erstmals 1249 erwähnt, und aus dieser Zeit stammt in ihrem Kern die Burg Gräpplang, deren malerische Ruine den gut 50 Meter über dem Tal aufragenden Felsrücken heute bekrönt. 1528 erwarb die Familie Tschudi aus Chur die Anlage, die nach mehrfachem Besitzerwechsel zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf Abbruch verkauft wurde. Die immer noch imposanten Relikte gingen 1923 in den Besitz der Gemeinde Flums über.

 

 

Kaum ein Gebäude ist aufwändiger zu erhalten als eine Ruine, und so musste der Gräpplang im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts mehrere Sicherungs­massnahmen über sich ergehen lassen. Das Ziel der jüngsten, von der Stiftung Pro Gräpplang initiier­ten Intervention bestand darin, die verfallenen Gemäuer für die heutigen touristischen Zwecke zu­gänglich zu machen. Ruinen bestehen zumeist aus Mauerhüllens Böden und Treppen haben die Zeitläufte nur in den seltensten Fällen überdauert. Auch bei der Ruine Gräpplang ging es somit vorderhand um eine neue Vertikalerschliessung. Dass die Wahl auf das Projekt des jungen Bündner Architekten Michael Hemmi fiel, ist als ein Glücksfall zu werten. Hemmi konnte ein Konzept realisieren, das sich aufs Vorteilhafteste in den Bestand einfügt und doch seine Zeitgenossenschaft nicht verleugnet.

 

Wiederentdeckung der Ruine

 

Friedrich Schinkel kommt das Verdienst zu, im Zuge der Rheinromantik mit seiner letztlich

als Neu­bau zu wertenden Sanierung des Stolzenfelses bei Koblenz die Aufmerksamkeit der Architekten­profession auf das Thema Burg gelenkt zu haben; und sobald der Kunsthistoriker Friedrich Kügler in der spätromantischen Ära mit seinem elegischen Sang «ihre Mauern sind zerfallen/ und der Wind streicht durchdie Hallen» die einstige Ritterherrlichkeit zu kantablem Leben erweckt hatte, konnte der Leip­ziger Baumeister Oskar Mothes, ideell unterstützt von den Studenten der nahe gelegenen Universitäten Jena und Leipzig, beginnen, seine

Sanierung der Rudelsburg bei Bad Kosen ins Werk zu setzen. Um 1900 kulminierte die historistische Burgenbegeis­terung in den Projekten des deutschen «Burgenbau­meisters» Bodo Ebhardt, der nicht nur die Marks­burg am Rhein und die Hochkönigsburg im Elsass wieder auferstehen liess, sondern überdies mit der in alten Formen neu geschaffenen Hakeburg in Klein­machnow bei Berlin die Vergangenheitsseligkeit des seinem Ende entgegen strebenden deutschen Kaiserreichs bediente; wenig später wuchtete Fried­rich Schwechten, dem Berlinunter anderem die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche verdankt, eine burg­artige

Residenz für Wilhelm II. in das Zentrum von Hosen. Als sei die Szenografie von Fritz Längs Nibelungen-Film verinnerlicht worden, rüstete das Baubüro von Albert Speer in den Dreissigerjahren diesen Komplex zu einem Monument des «Tausendjährigen Reichs».

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es Wichtigeres als die Restaurierung von Burgen; wo man sich dennoch mit dieser Bauaufgabe plagte, galt touristi­sches Interesse als Maxime. Mal mündete der Aktionismus in vernakulärer Kleingeistigkeit, mal in bescheidenem Modernismus - souveräne Lösun­gen wie Gottfried Böhms Restaurierung der Godes­burg bei Bonn oder

Aurelio Galfettis Neustrukturierung des Castello Gründe in Bellinzona blieben die Ausnahmen.

 

Reduktion und Expressivität

 

Hemmis Konzept ist in bestem Sinne unspektakulär: Von aussen entzieht sich die Intervention

den Blicken. Ziel war es, den vorhandenen Gewölberaum im Obergeschoss des Palas sowie das darüber befindliche, heute nach oben hin offene und somit als Aussichts­terrasse zu nutzende Geschoss für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dazu nutzt der Architekt nichts weiter als einen Weg von neunzig Zentimeter Breite, der durch ein verzinktes Geländer aus Rund­stäben und einem Flachstahl als Handlauf gefasst wird. Als 16 Zentimeter starkes Betonband schraubt sich der Treppenweg durch die Ruine; er beginnt im tiefst liegenden

Raum des Palas und endet schliess­lich im obersten Geschoss des turmartigen Bauteils. Dank der zurückhaltenden Farbigkeit und der for­malen Reduktion hat Hemmi einen minimalistisch an mutenden Parcours geschaffen, der aufgrund von Stahldornen zur historischen Substanz Abstand be­wahrt und somit auch seine eigentliche Körperlichkeit bewahrt. Gleichwohl wird der

Betonpfad zum expres­siven Element: Immer wieder geknickt durchdringt er die unterschiedlichen Raumbereiche, wobei Hemmi die vorhandenen Fenster- und Türöffnungen in den Mauern nutzte der Besucher erlebt die Ruine aus ungewohnten Perspektiven; immer wieder aufs Neue fällt der Blick auf andere Partien des Gebäudes, dann weiter durch die Fensterhöhlen auf das Seeztal oder das Massiv der Churfirsten, einmal wieder scheint der Weg zum Ziel geworden.

 

Architekt: Michael Hemmi, Trimmis; Bauleitung und

Ausführungsplanung: Michael Hemmi, Marcel Pola; Tragwerksplanung: Patrick

Gartmann/Conzett, Bronzini, Gartmann, Chur; Schlosserarbeiten: Erich Wildhaber,

Flums; Auftraggeber: Stiftung Pro Gräpplang, Flums